Prof. Dr. Ulrich Borsdorf

Eröffnungsrede 1993 in Essen

Sehr geehrte Damen und Herren,

gefragt, ob ich zu dieser Ausstellungseröffnung einige Worte sagen wolle, habe ich spontan zugestimmt – weil es mir eine Ehre ist, dies tun und damit gerade jetzt und gerade hier für den türkischen Teil unserer Bevölkerung bewusst auf- bzw. eintreten zu dürfen. Wir Deutsche haben allen Grund zu zeigen, dass wir die hier mit uns zusammen lebenden Türkinnen und Türken als Mitbürger in Deutschland – und wenn es nach mir ginge, auch als deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft oder doppelter Nationalität – jedenfalls als einen Teil von uns begreifen. Einen Teil, der vielleicht in vielen Dingen anders sein mag als wir in der Mehrheit, mit dem wir aber wie mit unseresgleichen leben und kommunizieren wollen. Einen Teil, der anders sein darf, ohne Angst haben zu müssen. 

Die Kultur und die Kulturpolitik in unserem Land haben – und das ist ja nicht verwunderlich – eine deutsche Perspektive – wenn es gut geht, eine (west-) europäische. Es werden aber Zeit, dass wir erkennen, längst mit mehreren Kulturen zu leben, die ihr Recht auf eigene, sich selbst definierende Perspektive haben und verwirklichen wollen. Die türkische Kultur, die Kultur der Türken in Deutschland, gehört dazu. Uns den Weg zu dieser Gemeinsamkeit in Vielfalt nicht durch die Verbrecher aus Solingen verminen und sprengen zu lassen, muss unsere verstärkte Anstrengung gelten. Mit Ereignissen wie dieser Ausstellung und ihrer Eröffnung heute tragen wir, hoffe ich, dazu bei, weiter den Weg zu ebnen und zu sichern, der in ein friedliches, freundliches, menschliches Miteinander führt. Voraussetzung dafür ist dass wir einander wahrnehmen und verstehen. Das kann man auch lernen.

Mehmet Ünal hilft uns dabei; er ist ein Übersetzer, ein Dolmetscher mit Fotografien und Zitaten. Wer in seinen Bildern liest, seine abstrahierenden Portraits, die Gesichter und Körperhaltungen der abgebildeten Menschen sorgsam studiert, erfährt viel. Vieles von dem, was Menschenschicksal ausmacht, liegt in diesen Bildern, Enttäuschung und Freude, Stolz und Melancholie, Ergebenheit und Behauptungswillen, Leid und Glück. Nachdenklichkeit, die Gestik und Mimik des Erinnerns, des Nach-Innen-Schauens, prägen die Gesichter der Abgebildeten am meisten. Und wenn der Betrachter der Bilder dann selbst zurück, nach links schaut (im Katalog jedenfalls), dann entsteht die Spannung des Vergleichs, dann spürt man die Zeit, die zwischen den Bildern liegt, dann werden sie im eigentlichen Sinn historisch. Diese Passfotos in ihrer lapidaren Unschuld, in ihrer oberflächlich-dokumentarischen Herkunft, sie zeigen andere und doch die gleichen Menschen. Sie zeigen Jugendlichkeit, aber auch Befangenheit, Ungewissheit, Mut, Entschlossenheit, Hoffnung. Und man beginnt das Leben zwischen diesen ungleichen Fotos zu ahnen. Das heißt, man kann sich ein Bild machen, von dem, das nicht fotografiert ist, nicht fotografierbar war. So halten die Fotografien gleichsam für das äußere Auge zwei Zeitpunkte eingefroren fest. Zwischen ihnen wird die Linie des Lebens vor unser inneres Auge geführt. Die Zitat-Texte fungieren dabei – ein Paradoxon – als Seh-Hilfe. So entstehen auf unserer gedanklichen Netzhaut Bilder von Einsamkeit, von Arbeit und Alltagshärte, von Fernweh und Sehnsucht, von Heimweh und Wiedersehensfreude, von Abenteuer und Fremdheit, von Familienglück und -unglück, von Armut und bescheidenem Wohlstand, vom Leben eben. „Ungültig“ nennt Mehmet Ünal sein Werk, hat den Titel listig einem Stempel entnommen, der Pässe,  Dokumente, Genehmigungen allerorts ziert, wo Menschen nach staatlichen Regeln der Ordnung zu leben gehalten sind. „Ungültig“ kommt von gelten, und gelten hat mit Geld eine gemeinsame Wurzel, etwas, was gilt, einen Wert hat. Die Fotografien von Ünal sind für mich die Widerlegung des Titels, denn Ünal  zeigt nicht Ungültiges, sondern bringt die Menschen und deren Geschichte zur Geltung, er macht sie gültig. Er verhilft diesen Menschen mit diesen Fotografien zur Würde. Die Würde des Menschen -ein Wort aus der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland- ist gleichzeitig das höchste Gut und dasjenige, das auf der Welt als das am meisten bedrohte erscheint. Dass dies auch in  letzter Zeit auch wieder in Deutschland der Fall ist, ist ein historisches Trauerspiel und ein politischer Skandal. Dagegen stehen mit schwachen Kräften der Kunst diese Bilder. Sie sind ein Versuch mit den Mitteln des künstlerischen Bildjournalismus. Aber dieser Versuch ist, eben nicht ungültig, sondern gültig im Sinne von wertvoll, im Sinne von Würde. Es ist wunderbar, dass Herr Ünal diese Fotografien dem DOMlT zur Verfügung stellen will; dorthin gehören sie wirklich und ich beglückwünsche das DOMIT* zu diesem neuen Besitz. Das Ruhrlandmuseum betrachtet die Existenz von DOMIT und dessen Pläne mit großer Sympathie. Sie wissen, dass unser Ruhrlandmuseum auch und gerade jetzt nicht so ausgestattet ist, dass wir mit Geld oder Kapazität in das DOMIT-Projekt hineingehen können. Aber wir  kennen viele Menschen und Institutionen und wir haben eine Menge Energie zu verschenken an Menschen mit denen wir uns auf dem gemeinsamen Weg zu einer menschlicheren Gesellschaft befinden. 

Prof. Dr. Ulrich Borsdorf 

(Ruhland Museum Essen)

Eröffnungsrede 02.09.1993 in Essen

DOMIT*: Dokumentationszentrum und Museum über Migration aus der Türkei. Mehmet Ünal ist Gründungsmitglied.