Fakir Baykurt

DIE AUGEN VON MEHMET ÜNAL

 

Unter Fotografie verstehe ich nicht, wie es heute noch bei der Mehrheit der Fall ist, daß man eine Kamera in die Hand nimmt, klick klick, und ein sogenanntes Bild wird gemacht. Ich sehe sie nicht als eine Arbeit an, die mit den modernen, mit technischen Raffinessen ausgestatteten Kameras, den sehr empfindlichen Filmen und den Möglichkeiten in der Papier- und Farbverwendung sehr leicht

erfolgreich ausgeführt werden kann. Ich bin der Ansicht, daß seit der ersten Kamera bis heute, nicht die Kamera das Foto macht, sondern das Auge hinter der Kamera bzw. das Bewußtsein und der Verstand, der sich hinter dem Auge verbirgt, macht die Aufnahme. Das Herz nimmt die das Herz erfüllende Liebe, die Freude, die Wut oder die quälenden Schmerzen der Menschen auf. In diesem Verständnis ist die Fotografie eine Kunst, die mindestens so umfassend und vielschichtig ist wie das Schreiben von Romanen oder sogar von Poesie.  Deshalb gibt es heute in unserem Land trotz aller technischen Möglichkeiten und den erforderlichen Materialien leider sehr wenige Fotografen, wie es auch sehr wenige Romanciers und Dichter gibt…

Was ist eigentlich Kunst? Ist sie in gewisser Hinsicht nicht wie die Wissenschaft, das Sehen und Aufzeigen der Wirklichkeit des Guten und des Schönen?

Wie wir ohne Mikroskop die Bakterien nicht sehen können, so können wir ohne die Hilfe durch die Kunst die Wirklichkeit, die unaufhörlich vor uns, in uns und außerhalb von uns fließt, nicht sehen. Was wir meinen, gesehen zu haben, ist das Vordergründige und der Vorhang. In dieser Hinsicht sind wir gezwungen, über die Kunst, die das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren sieht und den Menschen zeigt, über diesen Ozean, den tausende von Wellen aufwühlen, soweit unsere Kräfte reichen, von der schwierigsten Seite her  nachzudenken und zu verstehen. Als ich meinen Freund Mehmet Ünal 1979 in Mainz kennenlernte, habe ich sofort gemerkt, daß er zu den wenigen, Verrückten“ d.h. zu den Kunstbesessenen gehört. Vor einem Vierteljahrhundert ist er aus der Türkei gekommen und war Sozialberater für die Arbeiter zwischen Mainz und Koblenz, d.h. im Rheinland. Die Fotografie wirkte eher als eine Nebensache. Aber ich glaube, es ist seine Hauptbeschäftigung. ,,Aber was ich auch mache, wie sehr ich mich auch abstrampel, es klappt nicht“ sagt er und beißt sich ununterbrochen auf die Lippen. Die Befriedigung, die man bei der Arbeit leicht findet, ist in der Kunst leider gar nicht leicht zu bekommen. Seit unserem Kennenlernen bin ich eine beträchtliche Zeit mit ihm zusammen gewesen. Wir haben uns oft im Ruhrgebiet, Frankfurt, Duisburg, in Köln und in der Umgebung von Mainz getroffen und haben miteinander gesprochen.  Jahrelang hat er immer gearbeitet. Die Zeit nach seiner Arbeit hat er der Kunst gewidmet. Ich habe ihn unaufhörlich klagen gehört: ,,Es geht doch nicht. Was ich auch mache, es klappt nicht“. Es ist so, unser Freund Mehmet gehört zu den wenigen Leuten, die die Kunst als schwierig empfinden. Er arbeitet äußerst viel und ist sehr abgespannt. Wenn er auch dauernd sagt: „Es klappt nicht!“, so erzielt er doch große Fortschritte. Bei jedem Treffen sprechen wir über die Fotografie. Bis zu den Romanen sind wir noch nicht vorgedrungen. Wir schauen uns seine Fotografien an. Im Laufe der Jahre hat er an den Orten, die er besucht hat, Fotos in einer so großen Zahl gemacht, daß sie Alben und Galerien füllen. Aber wenn eine Ausstellung eröffnet wird, kann er von den Negativen, die in so großen Mengen die Ordner füllen, nur 40-50 Fotos auswählen. Dann sagt er wieder: ,Es geht nicht!“. Nochmals möchte ich ausdrücklich sagen, ,,meiner Meinung nach klappt es!“. Aber weil er wie ernsthafte Künstler die Kunst von ihrer schwierigen Seite ansieht, ist er unzufrieden. Mit seinen Augen, in denen sich die strahlende Sonne Anatoliens widerspiegelt, sieht er die Wirklichkeit und zeigt sie den Menschen. Unaufhörlich auf Schwierigkeiten  stoßend, mit seinem Gorki-Schnurrbart und seiner Kamera um den Hals, schießt er seit Jahren Arbeiterfotos entlang dem Rhein und der Ruhr. Er bemüht sich, die Arbeiterimigration in die Bundesrepublik. Manchmal sieht er die  Fotografie als unzureichend an und schreibt Gedichte, Geschichten und Reportagen. Wenn er eine Gelegenheit für ein halbstündiges Treffen mit Jannis Ritsos, einem Enkel Homers, findet, reist er umgehend nach Griechenland. Um mit Emil Carlebach zu sprechen, eilt er sofort nach Frankfurt. Emil Carlebach war einer der zwanzig Leute, die beim Transport von 2000 Leuten von dem Konzentrationslager Dachau nach Buchenwald am Leben geblieben sind. Als im 40.Jahr nach Ende des 2. Weltkrieges die deutsche Presse über die Niederlage Deutschlands schrieb, erzählte dieser alte Revolutionär meinem Freund Mehmet, wie sie aus den Waffenfabriken, in denen sie zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, Teile herausschmuggelten und Waffen herstellten. Sie befreiten sich aus dem Konzentrationslager, bevor die Alliierten kamen. Er sagt: ,,Den Krieg haben wir gewonnen, die deutschen Widerstandskämpfer!“ Genau dies ist das Erkennen und Aufzeigen des Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren. Mehmet sieht die anatolische Frau, von denen Millionen seit Jahren völlig isoliert leben, in der Telefonzelle und zeigt sie uns. Er erzählt uns die Freude in den strahlenden Augen des türkischen Arbeiters mit dem Schirm in der Hand, die nicht in Worte gefaßt werden können. Er fotografiert die Jugendlichen, denen keine Zeit geblieben ist; die Alten auf den Parkbänken, die durch ihre Isolation und Langeweile fast nicht mehr in dieser Welt leben. Mehmet sieht und zeigt das Wüstenleben der auf den Leitungen sitzenden Vögel in der Industriegesellschaft. Für uns nimmt er die Kinder auf, die in der Schule  unglücklich sind, deren Eltern in der Fabrik arbeiten, so daß sie zuhause allein gelassen sind. Wenn ich sehe, wie dieser unermüdliche Künstler, dieser unaufhörliche Friedenskämpfer mit der Kamera um den Hals auf Mißstände zugeht und dabei Erfolg hat, bin ich überglücklich. Ich möchte permanent ein Zeuge sein von den Jahren, in denen er viele Ausstellungen hat und viele Fotobände von ihm veröffentlicht werden. 

Fakir Baykurt – Duisburg 1985