Peter Thomas

von Peter Thomas

Die Life-Photographin und Pionierin der amerikanischen Bildreportage,  Margareth Bourke-White, sollte einst Mahatma Gandhi, den geistigen Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, für ihr Magazin ablichten. Doch Ghandi verweigerte sich dem Arbeitstempo der jungen Frau. Vor der  Photoaufnahme ließ er sie erst eine Zeit lang am Spinnrad arbeiten, jenem überaus einfachen und friedlichen Werkzeug, das er zum Zeichen seiner Bewegung gemacht hatte. Für die Amerikanerin war das eine völlig neue Erfahrung, die ihre ganze Konzentration forderte. So entspannte sich die Situation und die Photographin hatte nicht nur einfach eine Aufnahme gemacht — getreu der Maxime von George Eastman, dem Kodak-Gründer und Pionier der Amateurphotographie: ,,You just push the button, we do the rest“ —  sondern sie konnte (ja musste) sich Zeit nehmen, musste sich mit dem Menschen Gandhi und seinen Ideen auseinandersetzen, ihn als Individuum wahrnehmen. Und so hielt sie ihn schließlich nicht als Klischee in ihrem Bild fest, sondern als eine starke, eigenständige Persönlichkeit. Ich habe mich an diese Szene erinnert, als ich die Einführung von Sinasi Dikmen zu dem Katalog las, der Mehmet Ünals Ausstellung ,,Heimat Deutschland – Regenhitze“ dokumentiert, die bis Januar in der U – Bahn – Galerie des Hauses der Geschichte in Bonn gezeigt wurde und deren Bilder Sie heute Abend hier in der Rotunde des Rtisselsheimer Rathauses sehen. Der Kabarettist und Autor Dikmen erzählt in dem Vorwort von einem Phototermin mit Mehmet Ünal, einer Szene, in der es wiederum um die Ungeduld geht, die das Gelingen eines Photoportraits bedroht — nur sind ,die Vorzeichen diesmal umgekehrt. Während Sinasi Dikmen gespannt darauf wartete, endlich mit seinem schönsten Lächeln und frisch frisiert abgelichtet zu werden, nahm sich Mehmet Ünal Zeit, viel Zeit, in der geredet, getrunken und gegessen wurde, bis die Atmosphäre sich weit vom eigentlichen Ziel des Treffens entfernt hatte… Doch der Photograph war nur scheinbar unaufmerksam — denn jetzt machte er schließlich doch noch seine Aufnahme und es entstand ein Photo, das den unbeschwerten Freund Sinasi zeigt und nicht ein Abbild von dessen eigener Vorstellung eines repräsentativen Bildes. Mehmet Ünal, so erkennt Sinasi Dikmen heute, holt die Menschen, die er photographiert, hinter ihren Masken hervor. Er schafft es, sie ohne diese künstliche Haut zu zeigen, die sie sich als ein Bild anderen Menschen gegenüber zugelegt haben. Und tatsächlich kann auf keiner andere Basis wirklich große Portraitphotographie aufbauen — es muss eine Beziehung geben zwischen dem Menschen hinter der Kamera und dem Menschen, der vom Objektiv des Apparates erfasst wird: Ohne einen gewissen Grad an emotionaler Kommunikation wird das Bild meist beliebig bleiben, oft kalt und leblos. Die Metapher des Demaskierens meint hier allerdings keinen, Verzicht auf inszenierte Bilder, keinen absoluten Zwang zur spontanen Aufnahme. Große Portraitisten hinter der Kamera von Sander bis Annie Leibowitz haben die Menschen, die sie zeigen, in Szene gesetzt. So setzt auch Mehmet Ünal in seinen aktuellen Bildern das Mittel der Inszenierung ein. Doch auch das ist eben ein kreativer Vorgang, bei dem sich der Lichtbildner mit seinen Modellen und deren Leben auseinandersetzt, ihnen stets einen Freiraum zur Selbstdarstellung lässt, sie vielleicht sanft leitet, ihnen nie starre Posen vorschreibt. Es ist ein Schaffensprozess, der das allzu perfekt inszenierte Portrait vermeidet, der gewiss auch Elemente der Reportage einfließen lässt und dabei dem Charakter des Portraitierten, seinem Leben und im besten Falle gar seinen Träumen und Wünschen einen Weg in das Bild öffnet — ähnlich den großen Portraits der Malerei. Aber nicht allein die Eindringlichkeit und damit Qualität der Bilder zeichnen diese Ausstellung aus — es ist wenigstens im gleichen Maße der thematische Kontext, in dem die 50 schwarzweißen Portraits entstanden sind. Denn Mehmet Ünal hat mit dieser Ausstellung sein großes Projekt, in Deutschland lebende Türken zu portraitieren, konsequent fortgesetzt: Was mit seiner Dokumentation des Lebens seiner als ,,Gastarbeiter“ in die großen Industriebetriebe nach Deutschland gekommenen Landsleute begann, (unter anderem hat Mehmet Ünal auch bei Opel als Betreuer in den Wohnheimen des Unternehmens gearbeitet) wird hier mit einer Reihe von Bildern fortgesetzt, die ebenfalls aus der Türkei stammende und in Deutschland lebende Menschen zum Thema haben. Allerdings sind sie Vertreter ganz unterschiedlicher ,,gelernter“ Berufe, haben Erfolg und gesellschaftliches Ansehen errungen, sind zum Teil das, was man ,,Existenzgründer“ nennt. Die Erziehungswissenschaftlerin neben dem Professor für Biopsychologie. Berufsbilder wie Marktfrau, Dichter, Schriftstellerin, Unternehmer, Maler, Pharmareferentin, Bildhauer, Philologe, Politiker, Bürgermeister, Chirurg, Journalist oder Photograph. Sie tragen mit ihrer Arbeit, ihrem Leben längst wesentlich zur Kultur Deutschlands bei — Eine Tatsache, die bisher kaum wahrgenommen wird. Und sicher wendet sich Mehmet Ünal mit seiner Ausstellung auch gegen diese Ignoranz. Doch noch stärker wird ,,Heimat Deutschland – Regenhitze“ vom Aspekt der Dokumentation geprägt: Die Ausstellung ist auch ein sozialgeschichtliches Resümee, indem den Bildern die kurzen Definitionen  zugefügt sind, mit denen die Abgebildeten ihre Beziehung zu ihrer neuen Heimat Deutschland beschreiben. Von Freiheit und neuem Zuhause erzählen die einen, von den Möglichkeiten der individuellen Entwicklung andere, vom ,,Land der unbegrenzten Möglichkeiten gar. Gleichzeitig ist es doch aber auch eine ,,bittere“ schöne Heimat, ein Land der Leiden — ein Exil. Mit dieser Verbindung aus Bild und oft lapidarem Text hinterfragt der Künstler die  Bedeutung eines Heimatbegriffs, der nicht so leicht zu fassen ist für Menschen, die — wie es die Schriftstellerin Diana Canetti erkennt — viele verschiedene Wurzeln haben. Doch kaum jemand unter den Personen, die Mehmet Ünal für dieses Projekt aufgenommen hat, resigniert angesichts des oft schwierigen Umgangs mit diesem Land – mit Deutschland und seinen Menschen —einer Gesellschaft, die der Wirtschaftsfachmann Oktay Dursun so trefflich mit Lewis Carrols Land hinter dem Spiegel vergleicht, jenem skurrilen, bizarr-schönen ,,Wunderland“, in dem Alice ihre Abenteuer erlebt. Statt Resignation trifft man in den kurzen Bildtexten auf Engagement, auf die Bereitschaft zur Einmischung, zur konstruktiven Kritik — Elemente, von denen auch die Arbeit Mehmet Ünals seit vielen Jahren geprägt ist. Der 1951 in Canakkale in der Türkei geborene Photograph hat zunächst als Schauspieler gearbeitet, machte sich mit seinen freien politischen Ansichten in der Türkei jedoch unbeliebt. In den folgenden Jahren hat er auch die andere Seite des Daseins als Photograph kennen gelernt: Die Jagd nach dem Aufsehen erregenden Schnappschuss, die Suche nach dem bis zum Grad des Synthetischen ,,schönen“ und daher oftmals glatten Bild als Bildjournalist für Magazine, Zeitungen und Industrieunternehmen. Seinem eigenen, klaren und kritischen Stil wurde Ünal zwar nie untreu, aber auf Dauer ließ sich seine Arbeitsweise nicht mit der Einstellung vieler Auftraggeber in Werbeagenturen und Medien vereinbaren. So engagierte sich der 1976 nach Deutschland gekommene Photograph ab 1977 im gewerkschaftlichen Bereich, war Betreuer unter anderem in den Opelwohnheimen in Rüsselsheim, wo auch viele einfühlsame Bilder entstanden, die nicht nur die Menschen darstellen, sondern auch ihre Lebensumstände mit in die Stimmung der Photographien  einbeziehen — Bilder wie beispielsweise jenes, das auf dem Programm zur Rüsselsheimer interkulturellen Woche 1996 zu sehen war: Ein Photo, das die Grenzen der Zweidimensionalität aufzuheben scheint, das dem Betrachter eine Geschichte erzählt von Einsamkeit und Ausgrenzung, von einer Hoffnung, die sich vielleicht nie erfüllen wird. Mit solchen Bildern, die nicht spektakulär sind und sich dem Betrachter eher langsam erschließen, hat Mehmet Ünal, der heute als Organisationssekretär des DGB in Ludwigshafen arbeitet, die Verantwortung auf sich genommen, der Chronist eines Teils der deutschen Gesellschaftsgeschichte zu sein. Manifestiert hat sich dieses Engagement unter anderem in zahlreichen Ausstellungen und bisher drei Photobüchern. Die Belichtung des Films ist immer noch ein mechanischer und physikalischer Prozess, der nur wenige Bruchteile einer Sekunde in Anspruch nimmt. Doch wie unendlich viel mehr als den Druck auf den Auslöseknopf braucht es, damit gleichermaßen ehrliche und beeindruckende Lichtbilder entsteht — Photos wie die in dieser Ausstellung gezeigten. 

Peter Thomas
Journalist in Rüsselsheim