Dr. Thomas Brehm*

Bilder erzählen Geschichten – aber welche?

 

Mehmet Ünal lernte ich vor ein einigen Jahren kennen, als ich für das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn auf der Suche nach Fotografien zum Leben ausländischer Minderheiten in Deutschland war. Bei einem ersten Treffen in Mainz wollte ich mir einen Überblick über seine Arbeit verschaffen. Um für meinen Ankaufsvorschlag disponieren zu können, fragte ich ihn auch nach seinen finanziellen Vorstellungen. Seine Antwort werde ich nie vergessen. Zunächst sollten wir einmal eine persönliche Basis schaffen, sollte ich den Wert seiner Arbeiten für das Museum einschätzen und dann würde sich alles andere von selbst regeln, was es dann auch tat. Ich glaube, ich habe damals einen Einblick in das Fundament erhalten, auf dem Ünal  fotografische Arbeit gründet. Er besitzt ein tiefes persönliches, intellektuelles wie emotionales Verhältnis zu seinen Bildern und den Menschen, deren Persönlichkeit und Leben sie ausschnittsweise dokumentieren. Und es hat wohl einen tieferen Grund, warum er Fotografie nicht im Hauptberuf betreibt. Dieses Verhältnis zur Fotografie ist purer Luxus in einer Zeit, die die Verwertbarkeit von Bildern so in den Vordergrund gerückt hat. Doch als sein eigener Auftraggeber nutzt er die Chance, ohne Rücksicht auf Publikumsgeschmack und Pressetauglichkeit Szenen und Portraits der Nachwelt zu erhalten, die eine hohe Aussagekraft und Eindringlichkeit  besitzen. Wenn wir uns in den letzten Jahren trafen, berichtete Mehmet Ünal immer von seinen neuesten Projekten und Zukunftsplänen – begeistert, aber auch immer zweifelnd, ob bereits die richtige Vorgehensweise gefunden war. Und natürlich sprachen wir dabei über das Wesen der Fotografie, seine Vorbilder, sein fotografisches Ethos. 

Eine Frage, die uns immer wieder beschäftigt hat, war, wie ein gutes Bild zustande kommt. Was passiert eigentlich, daß der Auslöser gerade in dem Moment betätigt wird, der im Nachhinein besehen der richtige war. Sicher gibt es verschiedene Herangehensweisen. Da sind zum einen die motorisierten Experten. Sie versuchen mit hohem Materialeinsatz und hoher Konzentration den entscheidenden Moment gleichsam wie ein Jäger zu umkreisen und ihn bei der Laborarbeit herauszufiltern. Andererseits gibt es die Sparsamen, die entweder durch aufwendige Vorbereitung die eigentliche Fotografierzeit material-ökonomisch gestalten oder aber durch intensive Beobachtung und Miterleben der jeweiligen Situation mit relativ wenig Material das Geschehen verewigen. Jeder Fotograf wird die für ihn richtige Vorgehensweise im Laufe seines Berufslebens entdecken lernen und mit ihr die für ihn jeweils optimalen Ergebnisse erzielen. Dies ist aber nur ein Aspekt der fotografischen Technik. Mancher kommt ins Schwärmen, wenn er von den Entwicklungen der neuesten Apparate einschließlich der Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung erzählt. Andere wissen von ihren Lieblingsapparaten gerademal die technischen Grunddaten, ohne sich weiter Gedanken zu machen, ob dieser technisch  erweiterte Blick des Fotoapparates denn zu  verbessern wäre. Er genügt ihren Anfordernissen. Beide Positionen sind legitim und können zu gleichwertig hohen Ergebnissen führen. Ünal hat zur Technik ein unspektakuläres Verhältnis. Er sieht ihre Beschränkung und nutzt die Möglichkeiten, die sich ihm bieten. Und doch beeinflußt das Verhältnis zur technischen Seite der Fotografie auch das Verhältnis des Fotografen zu seinem Bild. Welche Bilder sind es, die er für festhaltenswert erachtet? Beobachtet er Menschen und Dinge und dokumentiert auf diese Weise das Leben? Oder sucht er in der Welt Bilder, die seine persönliche Vorstellungswelt repräsentieren? Ist er ein Bilder-Sucher oder ein Bilder-Finder? Welche Geschichten will er den Betrachtern erzählen? Erzählt er die Geschichten der Bilder oder erzählt er seine Geschichte in Bildern? Auch hier kennen wir in der Welt der Fotografie viele Beispiele, die den visuellen Ausdruck ihrer Ansichten über die Zeit in der Realität des Fotografierens suchen und finden. Sei es, daß sie auf den entscheidenden Moment geduldig warten, um ihn im Bruchteil einer Sekunde festzuhalten, sei es, daß sie durch Mittel der Inszenierung diesen Bildausdruck bewußt steuernd herstellen. Und es gibt die großen Entdecker, die gleichsam als Flaneure durch die Welt streichen und festhalten, was sie für überlieferungswürdig erachten. Immer auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen, von dem sie sich und die Betrachter immer wieder aufs neue überraschen lassen. Ich glaube, Ünal gehört zu den Bilder-Findern, der aus eigenem Erleben weiß, welche Bilder für den größeren Zusammenhang des Lebens von Türken in Deutschland  stehen. 

Das Bild der beiden Straßenfeger aus dem Jahr 1982 vermittelt uns mehr über   den sozialen Ort dieser Arbeit im Bewußtsein der deutschen Mittelstandsgesellschaft als manche tiefgreifenden soziologischen Analysen. Und das Bild der Arbeitslosenfamilie von 1983 umfaßt die ganze Bandbreite von Hoffnungen und Enttäuschungen, der Spannung des Lebens vieler Türken in Deutschland. Gemeinsam ist Ünals Bildern, daß sie auf ihre Weise  Geschichten erzählen – und auch Geschichte. Dabei erzählen seine Fotografien ihre Geschichten auf sehr zurückhaltende Art und Weise. 

Wir, die Betrachter müssen uns schon auf die Fotografen für uns festgehalten wurden. Interesse an Menschen und deren Ort in unserer Gesellschaft, Interesse an den Menschen und ihren Geschichten, Interesse an einem türkischen   Fotografen in Deutschland, der „um der Liebe willen“ den Weg von Istanbul  nach Mainz gefunden hat. 

Nürnberg, 2001
* Dr. Thomas Brehm ist Direktor des KPZ in Nürnberg